Soziale Integration: Teilhabekompass II

Soziale Integrationsmaßnahmen in Deutschland – insbesondere für Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen

Grundlage dieses Teilhabekompass II ist ausschließlich das geltende Bundesteilhabegesetz (BTHG). Die Autorengruppe wurde während des gesamten Entstehungsprozesses durch eine Expertengruppe unterstützt (siehe „Wie wurden die Informationen recherchiert“). In diesem Zusammenhang erfolgte auch eine Überarbeitung des Teilhabekompass – Berufliche Integrationsmaßnahmen in Deutschland (Teilhabekompass I) mit Bezug auf die Änderungen durch das am 1.1.2017 in Kraft getretene BTHG. Teilhabekompass I und II orientieren sich inhaltlich im Wesentlichen an der S3-Leitlinie „Psychosoziale Therapien bei schweren psychischen Erkrankungen“.

An wen richtet sich der Teilhabekompass II?

Der Teilhabekompass II der DGPPN richtet sich an alle Ärzte und jene an der Versorgung beteiligten Berufsgruppen, die erwachsene Menschen mit – insbesondere schweren – psychischen Erkrankungen behandeln. Er ist als Hilfestellung für all diejenigen entwickelt worden, bei denen der Aspekt der sozialen Teilhabe eine Rolle spielt.

Der Teilhabekompass II der DGPPN bietet einen Überblick über Leistungen und Leistungsanbieter von Sozialer Teilhabe (früher: Teilhabe am Leben in der Gesellschaft) nach dem 9. Sozialgesetzbuch (SGB IX). Darüber hinaus stellt der Teilhabekompass II Leistungen und Maßnahmen vor, die der sozialen Teilhabe dienen, aber über andere Sozialgesetzbücher, insbesondere das 5. Sozialgesetzbuch (SGB V) zur gesetzlichen Krankenversicherung finanziert werden. Außerdem werden verschiedene Projekte mit inhaltlichen und regionalen Besonderheiten vorgestellt, die teilweise auch außerhalb der Regelfinanzierung nach dem 9. Sozialgesetzbuch (SGB IX) realisiert werden.

Ziel des Teilhabekompasses II ist es in erster Linie, über die Möglichkeiten der sozialen Teilhabe zu informieren, Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen den Zugang dazu zu eröffnen und ihnen dadurch eine individuell gewünschte und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu ermöglichen. Auch für die Patienten selbst und ihre Angehörigen kann der Teilhabekompass als Wegweiser durch den „Versorgungsdschungel“ dienen.

Was ist Soziale Teilhabe im Sinne des SGB IX?

Menschen mit Behinderung oder Menschen, die von Behinderung bedroht sind, und insbesondere Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen haben Anspruch auf Soziale Teilhabe. Diese ist eine vorrangig im SGB IX verankerte Rehabilitations-/Sozialleistung. Die genauen Zugangsvoraussetzungen werden im dritten Teil dieses Kapitels („Welche Zugangsvoraussetzungen zu Leistungen der Sozialen Teilhabe gibt es und wie werden diese finanziert?“) näher betrachtet. Ziel dieser Teilhabeleistung ist es, die Behinderung abzuwenden, zu beseitigen, zu mindern, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder ihre Folgen zu mildern [4]. Leistungen zur Sozialen Teilhabe werden erbracht, um die gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu ermöglichen oder zu erleichtern. Dazu gehört insbesondere die Befähigung und Unterstützung einer möglichst selbstbestimmten, eigenverantwortlichen Lebensführung im eigenen Wohn-/Sozialraum [4]. Die S3-Leitlinie „Psychosoziale Therapien bei schweren psychischen Erkrankungen“ der DGPPN unterteilt Leistungen zur Sozialen Teilhabe in die Bereiche der Selbstversorgung und der Selbstpflege (Körper-, Kleider- und Wohnungspflege), der Tagesgestaltung und der Kontaktfindung. Ziel ist die Sicherung der Lebensqualität trotz Beeinträchtigung. Einzelinterventionen und weitere Unterstützungsleistungen, die auf soziale Teilhabe abzielen, werden folglich in verschiedenen Lebensbereichen erbracht. Darunter fallen beispielsweise soziale Kontakte, eigenständige Haushaltsführung, Pflege der Wohnung oder des eigenen Körpers, regelmäßige Einnahme der Medikamente oder die Planung und Organisation alltäglicher Erfordernisse [7].

Warum ist soziale Teilhabe so wichtig?

Gesundheitsprobleme bei Menschen mit schweren und chronischen psychischen Erkrankungen zeigen sich häufig durch eine geminderte Leistungsfähigkeit in Bereichen wie Wohnen, Bewältigung alltäglicher Aufgaben, Gestaltung und Strukturierung des Tages oder der Freizeit [7, 9]. Betroffene fühlen sich aufgrund ihrer Krankheit oftmals von ihrer Umgebung isoliert, soziale Kontakte werden vermisst [6, 8]. Diese Beeinträchtigungen alltagspraktischer und sozialer Fertigkeiten verschlechtern wiederum Erkrankungsverlauf und Lebensqualität [2, 7].

Der Wunsch nach geregelten Wohnverhältnissen, einem sozialen Umfeld und Möglichkeiten der Freizeitgestaltung ist bei den meisten Menschen mit psychischer Erkrankung dementsprechend von großer Bedeutung [2]. Soziale Teilhabemaßnahmen, also die Befähigung zur Teilhabe am sozialen Leben, haben somit einen hohen Stellenwert in der Behandlung [7].

Auch in der UN-Behindertenrechtskonvention wird der selbstbestimmten Lebensführung von Menschen mit einer Behinderung und der Verpflichtung des Staates, dieses Recht zu verwirklichen, viel Bedeutung beigemessen [5]. Hier muss insbesondere auf den Artikel 19 verwiesen werden, der das Recht auf gleiche Wahlmöglichkeiten, auf Leben in der Gemeinschaft und auf volle Einbeziehung und Teilhabe an der Gemeinschaft durch Gewährleistung beispielsweise gemeindenaher Unterstützungsangebote regelt [3].

Erfolgreiche Maßnahmen zur sozialen Teilhabe können die psychische Verfassung der Betroffenen stabilisieren und verbessern, die Lebensqualität erhalten oder heben und einer langfristigen Hospitalisierung und sozialen Desintegration vorbeugen [6, 9]. Unterstützungsangebote mit dem Ziel der eigenständigen Lebensführung beugen einer Stigmatisierung, welche oft eine große Hürde für eine gelingende Teilhabe darstellt, vor [2, 6, 11].

Der Teilhabekompass II soll somit helfen, Menschen mit psychischen Erkrankungen möglichst früh in geeignete Teilhabeleistungen zu vermitteln, um so eine ganzheitliche, sozialraumorientierte, settingübergreifende und multiprofessionelle Versorgung zu gewährleisten.

Die Suche und Auswahl der Leistungen sollte dabei ressourcenorientiert und in Absprache mit dem Betroffenen erfolgen.

Welche Zugangsvoraussetzungen für Leistungen der Sozialen Teilhabe gibt es und wie werden diese finanziert?

Im Folgenden wird eine grobe Skizzierung der sozialrechtlichen Rahmenbedingungen in Deutschland vorgenommen, welche für die soziale Teilhabe von schwer psychisch kranken Menschen von Bedeutung sind. Wichtigste gesetzliche Grundlage bildet das deutsche Sozialgesetzbuch. Der Bereich der Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen ist vorrangig im SGB IX geregelt. Darin werden verschiedene Rehabilitations- bzw. Leistungsträger genannt, welche für die Erbringung von Leistungen zur Sozialen Teilhabe zuständig sind:

Träger der gesetzlichen Unfallversicherung/Berufsgenossenschaft: Leistungen zur Sozialen Teilhabe dieser Leistungsträger gelten für Menschen mit einer psychischen Erkrankung oder Behinderung in Folge eines (Arbeits-)Unfalls oder einer Berufskrankheit (zuständig beispielsweise für Mobilitäts- oder Haushaltshilfen).

Träger der Sozialhilfe/Eingliederungshilfe: Leistungen zur Sozialen Teilhabe dieser Leistungsträger werden als „Eingliederungshilfe“ bezeichnet, orientieren sich jedoch inhaltlich an denselben Rechtsvorschriften wie Leistungen der anderen Rehabilitationsträger [2, 7].

Durch die Änderungen im Bundesteilhabegesetz ist seit dem 1.1.2018 ein einziger Antrag auf Leistungen zur Sozialen Teilhabe ausreichend, um ein umfassendes Prüfverfahren in Gang zu setzen, auf dessen Grundlage die Träger entscheiden, wer für welche Leistung zuständig ist. Neu ist außerdem, dass in der Eingliederungshilfe ab 2020 zwingend ein Antrag vorliegen muss, um Leistungen zur Sozialen Teilhabe erhalten zu können. Zudem ändert sich die Höhe der Freibeträge von Einkommen und Vermögen, welches bei Bezug von Leistungen geprüft wird.

Das SGB IX wird zukünftig in drei Teile gegliedert sein. Im ersten Teil werden Regelungen für Menschen mit Behinderung und von Behinderung bedrohte Menschen sowie das für alle Rehabilitationsträger geltende Rehabilitations- und Teilhaberecht zusammengefasst. Der zweite Teil regelt Leistungen des Eingliederungshilferechts, welches bisher im SGB XII verankert war, und im dritten Teil steht das bisherige Schwerbehindertenrecht. Inhaltlich unterscheiden sich diese drei Teile hinsichtlich der sozialen Rehabilitation wenig. Es weichen lediglich die Zugangsvoraussetzungen des zweiten Teils, der Eingliederungshilfe (welche nachrangig gegenüber den Leistungen anderer Rehabilitationsträger ist), voneinander ab. Diese richten sich momentan noch nach dem aktuellen Eingliederungshilferecht. Ab 2023 wird eine Neudefinition des leistungsberechtigten Personenkreises vorgenommen.1 Schließlich erhalten Menschen, die einen Grad der Behinderung von mindestens 50 haben oder diesen Menschen gleichgestellt sind, Leistungen nach dem Schwerbehindertenrecht.

Leistungen zur Sozialen Teilhabe können auch Bestandteile von medizinischer oder beruflicher Teilhabe sein wie beispielsweise die Persönlichkeitsentwicklung. So werden Leistungen, die sozialrechtlich nicht vorrangig unter dem Begriff der Sozialen Teilhabe gefasst werden, diese jedoch flankieren, auch über andere Sozialgesetzbücher wie dem SGB V settingübergreifend finanziert. Solche Leistungen werden in diesem Teilhabekompass mitaufgeführt.

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